Vor einigen Wochen bin ich über einen kurzen Beitrag „gestolpert“, der sich mit neuen Ansätzen in der MS-Therapie beschäftigt. Und zwar ging es nicht, wie sonst meistens, um verlaufsmodifizierende Therapien, sondern tatsächlich eher in Richtung „Heilung“. Zumindest insofern, dass es durchaus (und eher langfristig zu sehen) einiges an Forschung im Bereich der Remyelinisierung gibt.
Ich habe mich deshalb mal etwas näher und ausführlicher mit dem Thema beschäftigt und versuche im Folgenden verständlich zusammenzufassen, worum es geht, wie der aktuelle Stand der Forschung ist und wohin die Reise vielleicht gehen könnte.
Für alle, die sich ausführlicher mit dem Thema befassen wollen, habe ich die entsprechenden Seiten, von denen die Informationen stammen, direkt im Text verlinkt.
Warum Remyelinisierung wichtig ist
Bei MS greift das Immunsystem fälschlich Myelin – die schützende Hülle von Nervenfasern im zentralen Nervensystem – an. Ohne Myelin leiden die Nervenfasern unter …
- einer langsameren Signalübertragung,
- erhöhter Verletzlichkeit gegenüber Schäden und
- langfristig können Axone (die Nervenfasern selbst) degenerieren.
Selbst mit modernen Immuntherapien, die Entzündung und neue Schübe deutlich reduzieren, bleibt oft ein Fortschreiten der Behinderung. Man spricht davon, dass Residual‑ oder „subklinische“ Schädigung weiterläuft. Eine der Ursachen: chronische Demyelinisierung und fehlende vollständige Remyelinisierung. (Springer Nature: The road to remyelination)
Deshalb ist es ein bedeutender therapeutischer Ansatz, nicht nur die Entzündung zu unterdrücken, sondern die Myelinhülle zu reparieren – also Remyelinisierung zu fördern.
Was bedeutet Remyelinisierung?
Remyelinisierung ist der Prozess, bei dem die beschädigte Myelinhülle neu gebildet wird. Im idealen Fall:
- Oligodendrozyten‑Vorläuferzellen (OPCs, engl. Oligodendrocyte Progenitor Cells) werden aktiviert, migrieren zur beschädigten Nervenfaser. (Springer Nature: The road to remyelination)
- Diese differenzieren zu reifen Oligodendrozyten, die Myelin produzieren und um die axonale Faser wickeln. (The Lancet: Remyelination in multiple sclerosis: from basic science to clinical translation)
- Myelin wird wieder „funktional“ – d.h., es unterstützt die saltatorische Signalübertragung („Sprungleitung“) und schützt die Axone.
Leider ist diese Reparatur bei MS oft unvollständig: Myelinhüllen sind dünner, kürzer, oder Regionen bleiben gar unremyelinisiert. (The Lancet: Remyelination in multiple sclerosis: from basic science to clinical translation)
Die Forschung fragt daher: Wie kann man diesen natürlichen Reparaturprozess verbessern?
Wesentliche Hürden bei der Remyelinisierung
Damit Remyelinisierung gelingen kann, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein:
- OPC‑Aktivierung & Migration: Die Vorläuferzellen müssen ausreichend vorhanden, mobilisiert und in der Lage sein, zur Läsion zu gelangen.
- Differenzierung: Sie müssen sich in reife Myelinbildner verwandeln.
- Axon‑Erhalt: Die zugrundeliegende Nervenfaser muss noch intakt sein; bei stark geschädigten Axonen hilft auch Myelin nicht mehr viel.
- Regenerative Umgebung: Entzündung, Narbenbildung, myelinhaltige Trümmer, ungünstige molekulare Signale können die Reparatur blockieren. (ScienceDirect: Breaking the barriers to remyelination in multiple sclerosis)
- Timing & Alter: Je älter die Person, je länger die Erkrankung, desto schlechter ist oft die Remyelinisierung. (Springer Nature: The road to remyelination)
Diese Hürden erklären, warum die Forschung zur Remyelinisierung anspruchsvoll ist – aber auch vielversprechend.
Neue Therapieansätze zur Remyelinisierung
In den letzten Jahren haben sich verschiedene Strategien herausgebildet, die das Potenzial haben, die Myelinschicht nach MS‑Schädigung gezielt zu reparieren. Folgende vielversprechende Ansätze gibt es:
1. Kleinstmoleküle (small molecules)
Diese Medikamente zielen auf molekulare Signalwege ab, die die Reifung von OPCs oder Aktivierung von Reparaturmechanismen fördern.
- Ein Beispiel ist der M1‑muskarinische Rezeptor (mAChR). Studien zeigen: Blockade dieses Rezeptors kann die Differenzierung von OPCs begünstigen. (ScienceDirect: Enhancing remyelination in multiple sclerosis via M1 muscarinic acetylcholine receptor)
- Weitere Kandidaten zielen etwa auf Sterol‑/Cholesterin‑Stoffwechsel, Wachstumsfaktoren oder epigenetische Regulation. (NeurologyLive: Remyelination in Multiple Sclerosis: Progress and Pipeline Updates)
- Ein aktuelles Review führt aus, dass mehrere Phase II‑Studien zeigen, dass Remyelinisierung machbar ist – aber viele Studien die primären Endpunkte nicht erreicht haben, was Optimierung erforderlich macht. (Springer Nature: The road to remyelination)
2. Zell‑/Stammzell‑Therapien
Hier steht die Idee im Raum, entweder OPCs oder Stammzellen zu transplantieren oder deren Umgebung so zu verbessern, dass körpereigene OPCs effektiver arbeiten.
- Zum Beispiel werden mesenchymale Stammzellen untersucht, die immunmodulierend wirken und Reparaturprozesse fördern könnten. (NeurologyLive: Remyelination in Multiple Sclerosis: Progress and Pipeline Updates)
- Auch Experimente mit neuralen Vorläufern und gentechnisch veränderten Zellen laufen – bisher vorwiegend präklinisch.
3. Molekulare Regulation / Gen‑/RNA‑Therapien
- Kleine nicht‑kodierende RNA (miRNAs) können gezielt den Remyelinisierungsprozess modulieren (z. B. miR‑219, miR‑204). (Frontiers: Remyelination in multiple sclerosis from the miRNA perspective)
- Solche Ansätze könnten künftig erlauben, spezifische Reparaturprogramme in den Zellen anzustoßen.
4. Kombination von Immuntherapie + Reparaturtherapie
Bisherige Therapien für MS fokussieren auf das Unterdrücken von Entzündungen. Der nächste Schritt ist: nach Kontrolle der Immunreaktion, gezielt Reparaturmechanismen aktivieren.
Beispiel: Zuerst eine etablierte DMT (disease modifying therapy) einsetzen → dann ein reparaturförderndes Medikament ergänzen. Diese Kombination könnte besonders sinnvoll sein im späteren Verlauf (z. B. bei sekundär‑progressiver MS). (ScienceDirect: Progressive multiple sclerosis: Evaluating current therapies and exploring future treatment strategies)
Beispiele aus der klinischen Forschung
Ein paar konkrete Kandidaten und Studien:
- Der Wirkstoff PIPE‑307 (oral, Antagonist des M1‑Muskarinrezeptors) befindet sich in Phase 2 bei Menschen mit schubförmiger MS (RRMS) und zielt auf Remyelinisierung. (NeurologyLive: Remyelination in Multiple Sclerosis: Progress and Pipeline Updates)
- Der Übersichtsartikel von Zuroff et al. (2025) bietet eine umfangreiche Tabelle der bisherigen Remyelinisierungs‑Studien und zeigt, dass die Umsetzung in der Praxis zwar möglich, aber herausfordernd ist. (Springer Nature: The road to remyelination)
- Ein früherer Review (2020) zeigte die Mechanismen, warum Remyelinisierung in MS häufig unvollständig bleibt: Umgebung, Alter, Beschädigungstiefe u. a. (The Lancet: Remyelination in multiple sclerosis: from basic science to clinical translation)
Wichtige Fragen & Herausforderungen
Trotz vielfältiger und erfolgversprechender Fortschritte gibt es noch wichtige offene Fragen:
- Wer profitiert am meisten? Nachtteil: Wenn die Axone zu stark geschädigt sind, hilft Myelin allein nicht mehr.
- Wann ist die Therapie ideal? Frühzeitig nach Schädigung? Oder auch im chronischen Stadium?
- Welche Biomarker messen wirkliche Remyelinisierung? Herkömmliche funktionelle Messungen (Gang, Greifen) sind oft zu unspezifisch. (Springer Nature: The road to remyelination)
- Langfristige funktionelle Effekte: Reparatur bedeutet nicht zwangsläufig sofortige Besserung – die axonale Funktion muss erst wieder herstellbar sein.
- Sicherheit & Kosten: Zelltherapien oder gentechnische Ansätze haben Zusatzrisiken bzw. ‑kosten.
- Klinik‑Design: Studien zu Remyelinisierung erfordern oft große Teilnehmerzahlen, längere Beobachtung und sensible Endpunkte. (Springer Nature: The road to remyelination)
Was bedeutet das für Betroffene?
- Es gibt keinen zugelassenen Remyelinisierungswirkstoff (Stand heute, Oktober 2025).
- Dennoch: Forschung ist aktiv, und in einigen Jahren könnten neue Therapien zur Verfügung stehen.
- Wichtig: Gut geführt weiter mit Deiner neurologischen Versorgung zusammenarbeiten – inklusive etablierter DMTs, Reha, Bewegung, Ernährung und Symptombehandlung.
- Wenn Du interessiert bist – bespreche mit Deinem Neurologen die Möglichkeit der Teilnahme an klinischen Studien – besonders wenn Deine Erkrankung stabil ist und Du offen bist für neue Therapien.
- Halte Dich auf dem Laufenden: Veröffentlichungen, MS‑Gesellschaften, Klinik‑Newsletter – Remyelinisierung wird ein zentraler Forschungsbereich bleiben.
Ausblick und Fazit
Die Reparatur von Myelin bei MS ist mehr als ein „nice to have“ — sie ist im Prinzip notwendig, um das Fortschreiten der Erkrankung besser zu stoppen oder sogar verloren gegangene Funktionen zum Teil wiederherzustellen.
Zwar stehen wir noch nicht ganz am Ziel, aber die ersten menschlichen Studien zeigen: Remyelinisierung ist machbar. (Springer Nature: The road to remyelination) Nun geht es darum, die richtigen Patienten, Zeitpunkte und Messgrößen auszuwählen, damit die Therapien effektiv und sicher im Klinikalltag eingesetzt werden können.
Ich denke, es lohnt sich, hier „am Ball zu bleiben“.